Bodycam-Ausflug durch die Wirrnisse des menschlichen Daseins


Ines Ingerle, Ray, Februar 2022

Man könnte behaupten, in Ludwig Wüsts neuem Film passiert wenig. Das wäre sowohl richtig als auch vollkommen falsch – und genau in dieser Diskrepanz ist die Sogwirkung, die 3.30 pm ausübt, begründet. Jenen, die Wüsts Filme kennen, ist sie schon vertraut: Diese ganz eigene Art der Spannung, die sich zwischen langen Kameraeinstellungen, alltäglichen Dialogen und einer ohrenbetäubend lauten Stille entfaltet. Wüst versteht es, den Gegensatz zwischen äußerem Stillstand und innerer Rastlosigkeit kinematografisch in Szene zu setzen, lässt seinen Schauspielern viel Interpretationsspielraum, um ihre Charaktere menschlich und zugänglich zu machen. So wirkt alles, was wir auf der Leinwand sehen, unheimlich real. Wir finden uns in einzelnen Gesten, Blicken und Sätzen wieder, können in dem, was nicht gesagt wird, unendlich viel hören und begeben uns gemeinsam mit den Charakteren auf eine Reise zu den Tiefen unserer selbst.

Auch 3.30 pm geht mit den Darstellern auf emotionale und geografische Wanderschaft: Zwei Freunde treffen einander nach 15 Jahren wieder und streifen gemeinsam durch Wien und Umgebung: Zwischen Spaziergängen am Brachland des ehemaligen Nordbahnhofs, Biertrinken im Wurstelprater und Gartenarbeit in Martins desolatem Elternhaus am Land teilen die beiden Männer persönliche Geschichten aus ihrer Vergangenheit, reden über menschliches Versagen und gesellschaftlichen Absturz, über Desillusionierung und die bedenkliche Entwicklung der Gegenwart. Dabei herrscht ein konstantes Spannungsfeld zwischen Öffnen und Schließen, befreiender Ehrlichkeit und schambehafteter Einsicht, bis hin zur Offenbarung eines schweren Kindheitstraumas und den heilsamen Klängen eines alten Akkordeons.

Ludwig Wüst geht bei der gestalterischen Umsetzung seines neuen Werkes einen Schritt weiter als bisher: Gefilmt wird ausschließlich mit einer Bodycam, die einer der beiden Protagonisten umgeschnallt hat. Das wirft den Zuschauer zwischen dem Unbehagen eines voyeuristischen, verbotenen Blicks und der Genugtuung, ganz nah dran und mitten im Geschehen zu sein, emotional hin und her. Ähnlich wie die Charaktere sich in einem stetigen Wechselspiel von Vertrauen und Misstrauen bewegen, springen auch wir zwischen moralischen Ansprüchen und sensationshungriger Neugierde herum, fühlen uns ebenso unsichtbar wie gleichsam entlarvt. Für diesen gelungenen Kunstgriff erhielt Wüst 2021 den Kamerapreis der Diagonale, denn, so die Begründung der Jury: „Gerade durch ihre scheinbare Belanglosigkeit birgt diese überraschende Perspektive eine cineastische Offenbarung“.

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