Der Letzte der Unabhängigen


Christoph Huber

Ein Wüstbild, ein Wüstenbild: oben die Endlosigkeit des blauen Horizonts, unten die sandige Weite. Überall das Pfeifen des Windes. Eine Minute lang.

Dauer und Landschaft: Der Anfang von Ludwig Wüsts Debütfilm Ägyptische Finsternis (2002), einer Adaption des dritten Kapitels von Ingeborg Bachmanns Romanfragment Der Fall Franza, legt erste Koordinaten fest.

Die Dauer, um die tiefere Wirkung zu erfassen: für Projektionen der Sehnsucht, für Ahnungen des Verdrängten, für Beschwörungen des Spirituellen hinter den materiellen Oberflächen. Für das Durchscheinen von Vergangenheit und Zukunft hinter dem Erscheinungsbild der Gegenwart. Kein Stillstand – selbst da nicht, wo die Kamera in den für Wüst so charakteristischen langen Einstellungen bewegungslos bleibt –, sondern: Zeitreise (und Seelenfahrt).

Durch die Landschaften, in denen sich bei Wüst stets Tieferes spiegelt, in denen das Unsagbare kontempliert werden kann. In Naturbildern wie den Wüstenszenen von Ägyptische Finsternis, den Schneelandschaften von (ohne Titel) (2015) oder dem Flachland rund um Wien in Wüsts jüngstem Spiritual-Road-Movie Aufbruch (2018). Aber auch in urbanen Zonen, die oft noch desolater sind – am verblüffendsten wohl in der Schnittfolge, die den Seelenstrip Abschied (2014) geisterhaft beschließt. Im Inneren von Behausungen, die keine Zufluchtsräume mehr sind, sondern Minenfelder des Verdrängten wie im Ein-Einstellungs-Rundgang durch Das Haus meines Vaters (2013), wobei dort der Abstieg zu den Geistern der Vergangenheit auch explizit die Wiederentdeckung eines (verlorenen?) Paradieses aus der Erinnerung beschwört. Und – die wichtigsten Landschaften des Wüst-Werks – das menschliche Gesicht und der Körper, wie in der in ihrer ungefilterten Schmerzlichkeit schwer zu ertragenden minutenlangen Echtzeit-Weinkrampfszene von Wüsts zweitem Film Zwei Frauen (2006).

Thematisch ist Wüsts Werk dabei von Anfang an wie aus einem Guss. In Ägyptische Finsternis will die Protagonistin ihrer bürgerlichen Existenz entfliehen: „Ich bin also in die Wüste gegangen. Das Licht hat sich über mir erbrochen.“ Aber es wird eine Reise ohne Wiederkehr – und eine innere Odyssee: durch die Fremde in Richtung Verlöschen. Solchen Erzählungen des Verschwindens stellt Wüst Erforschungen des Auftauchens aus dem Verborgenen gegenüber: In Zwei Frauen erfährt die Hauptfigur, dass ihr verstorbener Mann jahrelang ein Verhältnis mit einer anderen unterhielt, wovon nur sie nichts wusste. Im ausgeräumten Apartment versucht sie die Frau ihr Leben neu zu fassen: Sie empfindet eine Leere, die gefüllt werden muss, bespiegelt vom kargen Interieur, gesäumt von den Zeichen und Botschaften der heimlichen Liebe.

Diese beiden mittellange Frühwerke sind bei aller Unbehauenheit schon mustergültige filmische Absichtserklärungen: Der in der Oberpfalz geborene Wahlwiener Wüst hatte eine musikalische und Theaterkarriere hinter sich (Ägyptische Finsternis hatte er zuvor als Stück inszeniert), als er sich dem Kino zuwandte. Seine leidenschaftliche Cinephilie speiste sich aus der Vorliebe für radikales und in jeder Hinsicht unabhängiges Filmemachen quer durch die Dekaden und Nationen: Am Ausgangspunkt standen u.a. durch den Japaner Teshigahara Hiroshi und Pier Paolo Pasolini, dem Wüst mit dem feinen Fahrtkurzfilm Pasolinicode 02112011 (2011) einen angemessen sinnlichen und mysteriösen Tribut widmete. Charakteristisch für Wüst ist dabei, dass er den Mythos von Pasolini nicht erklärt, sondern erdet, indem er ihn ans Konkrete des Schauplatzes von Pasolinis Ermordung bindet.

Die Unbedingtheit von Wüsts obsessivem Werk – bei seinen Filmen ist in jeder Einstellung das leider rar gewordene Bedürfnis zu spüren, dass sie schlichtweg gemacht werden mussten – paart sich mit seinem ausgeprägten cineastischen Bewusstsein: Auch wo er auf scheinbar simple „dokumentarische“ Mittel zurückgreift, verrät die Umsetzung erstaunliche Reflexionsgabe. Im Kammerspiel Zwei Frauen wird die Videokamera zum zweiten Protagonisten (und Repräsentanten des Zuschauerblicks, der in die Privatsphäre der Protagonistin eindringt). Die ganze Kommunikation ist vom zwischenmenschlichen Direktkontakt in die entfremdende Welt der Medien verlagert

Als Auslöser der Erzählung dient dabei ein Video – ein Kunstgriff, den Wüst in seinem selbsterklärten „zweiten ersten Film“ Koma (2009) wiederholt: Wüsts erste abendfüllende Arbeit mit größerem Ensemble besticht dabei mit einer ästhetischen (Selbst-)Sicherheit, die einen bemerkenswerten Fortschritt belegt. Hatten die zwei Vorgängerfilme in ihrer Skizzenhaftigkeit noch etwas von Versuchsanordnungen, so überzeugt Koma in seiner Kompromisslosigkeit – sowohl was tabubrecherische Inhalte wie inszenatorische Wagnisse angeht – und in seiner Vision als vollständiger Entwurf (nebenbei ist es die erste Zusammenarbeit mit dem unaufdringlich virtuosen Kameramann Klemens Koscher, der – wie bestimmte Darstellerinnen und Darsteller – ein wesentlicher Teil des filmischen Wüst-Kosmos geworden ist).

Diese Geschichte eines Taxifahrers, der seiner 50. Geburtstagsfeier fernbleibt, weil er sich einem dunklen Geheimnis aus seiner Vergangenheit stellt, trug Wüst erstmals größeres Aufsehen ein: Die Kombination von Provokation und Präzision mag auf den ersten Blick dem gefeierten österreichischen Festivalkino zwischen Ulrich Seidl und Michael Haneke nahestehen, aber die verstörende Utopie, auf die Koma zusteuert, hat eher etwas von den spirituellen Erlösungsgeschichten eines Carl Theodor Dreyer. Im resoluten Beharren auf eine künstlerische Freiheit, die lieber Low-Budget-Bedingungen akzeptiert als Förder- oder sonstige Finanzierungskompromisse einzugehen, ist Wüst der Letzte der Unabhängigen im Austro-Spielfilm geblieben, nachdem der Veteran Peter Kern 2015 verstorben ist.

Zugleich verrät Koma den unterschwelligen Humor, der bei Wüst immer wieder aufblitzt: eine abgründige Offenbarung erfolgt in einem zehnminütigen Monolog ohne Schnitt in ziemlich lustigem fränkischen Akzent (abgeliefert von der unvergleichlichen Anke Armandi, einem anderen wichtigen Bezugspunkt im Wüst-Kosmos). In der – aus der Endfassung wieder geschnittenen – Coda von Tape End (2011) hätte sich diese Tendenz zum Satyrspiel gesteigert: Als Fegefeuer der Eitelkeiten ist dieses Vierpersonenstück ohne Schnitt dabei der radikalste Ausdruck von Wüsts Experimentierfreudigkeit (er verließ als Regisseur das Set, um es ganz dem Darsteller des Regisseurs im Film zu überlassen) und deutlichster Ausdruck seines Nahverhältnisses zur Avantgarde, samt deren malerischer Tendenz.

Die Spur über Michael Snows Klassiker Wavelength(1967) führt direkt zum ersten Teil von Abschied,wo ein ganz normaler Nachmittagsplausch zwischen zwei Freundinnen im Würgegriff eines kontinuierlichen Zooms zur heftigen Entladung wird, bei der unweigerlich Grenzen überschritten werden. Die geisterhafte Auslöschung im ganz gegensätzlich gestalteten zweiten Teil des Films wird im Wüst’schen „objet trouve“ (ohne Titel) als Traum(a)reise fortgeführt.

Umso erstaunlicher wirkt die persönliche Rückschau von heimatfilm (2016), wo aus einer Fülle auf den ersten Blick heterogener Materialien eine Rückschau auf „18 Jahre Guerillafilme“ gehalten wird. Der Anfang greift das schöpferische Wechselspiel von Schrift, Sprache, Bild (und Musik/Ton) aus dem Vorgängerfilm auf, um in gebrochener Form eine Art Leseanleitung zu geben: Auch das ist (Wüst-)Film. Vom eigenen Familienfotoalbum über unverwendetes Material von früheren Filmen bis zum pas de deux von Dokument und Fiktion gelingt Wüst ein schillerndes Mosaik der Assoziationen, die um die Idee von Heimat kreisen. Was für Wüst natürlich auch heißt, die Heimatlosigkeit zu bedenken: Woher kommt man, wohin geht man? Was sagt einem das darüber, wo man ist? Knapp nach seinem 50. Geburtstag zieht Wüst Resümee.

Was für ihn natürlich auch ein Aufbruch ist. Mithin ein idealer Titel für seine jüngste Arbeit, mit der er bei den Berliner Filmfestspielen den Einstieg in die A-Festivalliga geschafft hat. Er spielt in Aufbruchselbst eine Hauptrolle – und ist nicht nur im authentischen Biertrinken und Tischlern eine außerordentliche Leinwandpräsenz: Als ein Mann, der eine ebenso seelenwunde Frau (Wüst-Stammdarstellerin Claudia Martini) aufliest und mit ihr auf eine Reise geht, nach der nichts mehr sein kann wie vorher. In der gezielten Reduktion öffnet sich dabei wieder Wüst’sche Weite – die elementaren Dinge des Lebens werden mit zugänglicher, dabei völlig kompromissloser Klarheit durchleuchtet, die zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Vorlieben (auch im Kino) Wüsts zusammenbringt: Die minimalistische Schönheit japanischer Ästhetik und die symphonische Schwere des Russenfilms – insbesondere in den überwältigenden Szenerien von Wiens Albernem Hafen im Schlussteil. Man möchte fast von einem „dritten ersten“ Film sprechen, aber das hieße schlichtweg zu verkennen, dass Wüsts Werk ein stetig expandierender Kosmos und ein permanenter Aufbruch ist.