Interview: „Es geht immer um Ausnahmesituationen“


Andrey Arnold, Die Presse Schaufenster, 01.03.2019

Als Filmemacher geht er stets an die Grenze: Ludwig Wüst im Gespräch über das Schaffen von Gegenwelten, treue Wegbegleiter und eine neue Schaffensperiode.

Ludwig Wüst ist eine Anomalie des österreichischen Kinos. Seit Jahren setzt er abseits geregelter Industriebahnen Filme in die Welt, die sich mit nichts, was hierzulande über Leinwände flimmert, vergleichen lassen. Seine ambitionierten Erzählungen handeln von Schuld und Sühne, Verlust und Vergebung, Gewalt und Genesung – und loten dabei nicht nur formalästhetische Grenzen aus. Bei „Tape End“ führte er Regie, ohne anwesend zu sein, sein Erinnerungsdrama „Abschied“ besteht fast nur aus einem durchgängigen Zoom – und im Laufbildessay „Heimatfilm“ verknüpfte er disparates Gedächtnismaterial zu einem kaleidoskopischen Selbstporträt. Mit „Aufbruch“ hat er nun eine Art metaphysisches Road-Movie geschaffen, betörend und mysteriös wie Jim Jarmuschs „Dead Man“. Überdies widmet die Diagonale Wüst ein umfassendes Tribute, zu dem neben Werkschau, Carte blanche, Masterclass und einer Theaterinszenierung am Grazer Schauspielhaus auch eine „Holzlecture“ des gelernten Tischlers zählt.

Sie sind schon seit knapp 20 Jahren als Filmemacher tätig, bislang weitestgehend außerhalb des öffentlichen Rampenlichts. Jetzt ehrt Sie die Diagonale, in Berlin gab es kürzlich ein Werkschau, weitere sind in Vorbereitung. Ein Durchbruch?

Von diesen 20 Jahren waren die ersten zehn wirkliche Hungerjahre. Ich habe stur und konsequent an meiner Sache gearbeitet, ohne dass es jemand bemerkt hätte, meine ersten Filme erreichten nur einen kleinen Kreis. 2009 schlug dann erstmals die Stunde der Wahrnehmung, weil mein Film „Koma“ auf vielen internationalen Festivals gezeigt wurde: Für mich die offizielle Geburtsstunde als Filmemacher. Jetzt komm nach zehn weiteren Jahren wohl die nächste Etappe, das freut mich natürlich.

Ausschlaggebend für den Aufmerksamkeitsschub dürfte „Aufbruch“ sein, der 2018 bei der Berlinale für Aufsehen sorgte.

„Aufbruch“ ist für mich die bislang größte filmische Anstrengung. Davor hatte ich fast jedes Jahr einen Film gemacht, und mein „Heimatfilm“ fühlte sich wie ein Endpunkt dieser Schaffensperiode an: Alle persönlichen Leitthemen waren dort gefasst, das formale Experiment beinahe bis zur Auflösung betrieben. Ich musste etwas Neues ausprobieren. Die Vorbereitungen nahmen zwei Jahre in Anspruch, das war eine Zeit des Rückzugs.

Wie meinen Sie das?

2016 redete ich praktisch nicht mit Kollegen, nur mit Mitgliedern meiner Filmfamilie. Von Mai bis November haben wir durchgearbeitet, jede Szene mit Kamera vor Ort geprobt, damit wir am Set keine Fehler machen.

„Filmfamilie“?

Das sind meine langjährigen künstlerischen Wegbegleiter: Claudia Martini, Martina Spitzer, Maja Savic, Klemens Koscher . . . Arbeitskonflikte gibt es bei uns eigentlich nie, wir wissen genau, dass es uns allen immer um die Sache geht. Und im Zweifelsfall muss ich eben eine Entscheidung treffen.

Wie bereiten Sie sich auf einen Film vor?

In den Findungsphasen treffen wir uns einmal die Woche, reden ausführlich über das Thema des Films, anschließend kochen, essen und diskutieren wir weiter. So entstehen Dinge, die im Filmindustrie-Kontext nur selten möglich wären. Man kann einfach viel weiter gehen als bei einer „normalen“ Produktion, auch weil das gegenseitige Vertrauen und der Respekt viel mehr ermöglichen.

„Aufbruch“ hat etwas Rätselhaftes an sich: Ein Mann und eine Frau gehen auf Reise, aber die Hintergründe werden nur angedeutet. Ist Ihnen wichtig, dass Zuschauer alles „verstehen“?

„Aufbruch“ ist eine Erfahrung, auf die sich der Zuschauer einlassen kann. Obwohl die Geschichte simpel ist, lässt sie Raum für unterschiedliche Zugänge. Einerseits ist der Mann einfach nur ein Verzweifelter, aber er könnte auch ein Todesengel sein. Ich finde, das Gedicht von Wladimir Solowjow, das die Frau an einer Stelle vorliest, bringt den Kerngedanken auf den Punkt: Wir Menschen können uns eigentlich nur freundlich zuwinken, nicht mehr.

Die Handlung ist auf das Wesentliche reduziert.

Karger geht’s kaum. Aber sie erzählt etwas über zwei Personen, die ihren Weg gehen und sich, obwohl sie einander fremd sind, gegenseitig blind vertrauen.

Sie spielen eine der beiden Hauptrollen, einen arbeitslosen Tischler.

Ursprünglich war das nicht geplant, aber ich bin in die Figur hineingewachsen. Mir war schnell klar, wie ich sie anlegen muss: Schweigend, konzentriert auf das, was sie tut. Handwerker sind ja immer sehr wortkarg und praktisch.

Die Tischlerei ist Ihnen vertraut. Im Film kann man Sie sogar bei der Manufaktur eines Kreuzes beobachten.

Mir ging es darum, zu vermitteln, was ich über dieses Handwerk gelernt habe – ganz en passant. Für diese Szene habe ich zwei Stunden vor Dreh alle Teammitglieder des Sets verwiesen, weil ich mich voll auf die Choreografie der Tätigkeit konzentrieren musste. Dann haben wir gedreht: One Take!

Eines der markantesten Requisiten in „Aufbruch“ ist das schrullige Dreirad-Gefährt, mit dem die Protagonisten durch die Gegend tuckern.

Das ist ein Moped mit Hülle, original aus den Sechzigern. Ich habe es zufällig im Netz entdeckt. Am Land nutzten das früher Leute, die ihren Führerschein „verloren“ hatten. Wenn jemand damit ankam, wusste jeder: Der ist abgestürzt. Für die männliche Hauptfigur ist das ein Stigma, eine Art Kastration: Er hat sich versoffen, seinen Job verloren. Trotzdem sieht dieser Alkoholiker-Manta sehr lustig aus. Wenn er zum ersten Mal ins Bild kommt, fragt man sich: Was ist denn das?

Sie arbeiten sich schon seit zehn Filmen an ähnlichen Motiven ab. Was sind für Sie die wesentlichen Koordinaten des „Wüstiversums“?

Ich sollte mich eigentlich davor hüten, mich zu erklären. Aber im Zentrum meiner Arbeit stehen Menschen, die an existenzielle Grenzen stoßen, es geht immer um Ausnahmesituationen. Mit dem, was da draußen los ist, bin ich nicht einverstanden. Also versuche ich, eine Gegenwelt zu schaffen, ein temporäres Zuhause – zunächst für mich, beim Schreiben. Dann gebe ich dieses Zuhause an meine Mitstreiter weiter, und wir leben gemeinsam darin. Meine Filme sind Einladungen ans Publikum, an dieser Utopie teilzunehmen.

Markant auch die Musik – ein dumpfes, ominöses Trommeln.

Es ist das erste Mal, dass ich einen Soundtrack bestellt habe – von Andreas Dauböck, den ich vom Theater kenne. Wir haben lange an der Trommelsymphonie gearbeitet. Die ersten Sketches waren ein akustisches Erdbeben und eine Totenglocke. Als die beiden Hauptfiguren in ein Boot steigen, kommt sie erstmals zu vollem Einsatz. Natürlich geht es da um den Styx, ums Fegefeuer.