Im „Alkoholiker-Manta“: Interview und Kritik


Otto Friedrich, Die Furche, 14.03.2019

Dem Filmemacher, Schauspieler, Regisseur – und Tischler – Ludwig Wüst widmet die Diagonale ein ganz besonderes Tribute. Ein Gespräch über das Handwerk, Holz und Wüsts neuen Film „Aufbruch“.

Er versteht sich als Holzarbeiter, Regisseur, Schauspieler: Die Diagonale hat für Ludwig Wüst ein besonderes Tribute gestaltet: Wüst
führt Regie bei einer Produktion von Strindbergs „Fräulein Julie“ im Haus Eins des Grazer Schauspielhauses, er hält eine „Holz Lecture“ – und natürlich wird Ludwig Wüsts filmisches Œuvre präsentiert. Sein jüngstes Leinwand-Opus, „Aufbruch“, läuft auch in den heimischen Kinos.

DIE FURCHE: Im Rahmen des Diagonale-
Tributes werden Sie auch eine „Holz Lecture“ geben. Was wird das sein?

Ludwig Wüst: Für 14 „Auserwählte“ werde ich da ein Stück Holz bearbeiten. Dieses Holz wird dann durch 14 geteilt: Das ist ein analoger Beweis unserer Existenz an diesem Tag. Die Teilnehmer nehmen sich dieses Brett mit und können es den Rest ihres Lebens verwenden, auch als Schneidbrett, oder sie können es in den Schrank stellen. Aber sie haben den Beweis, sie waren da.

DIE FURCHE: Holz ist Ihnen sehr wichtig.

Wüst: Ich bin mit Holz aufgewachsen auf einem Bauernhof. Ich bin als Bub spazieren gegangen und habe immer meinen Zeichenblock dabei gehabt und die Bäume gezeichnet. Mit etwa zwölf Jahren habe ich wie die alten Meister en plein air Landschaften gemalt – vorzugsweise im Herbst und Winter. Mit 18 musste ich mich entscheiden: Studiere ich Malerei oder mache ich etwas anderes? Da habe ich mich für den Tischler entschieden, weil ich die Bäume so gut kannte. Das habe ich nie bereut. Das Holz hat mich nie verlassen.

DIE FURCHE: In Ihrem Film „Aufbruch“ spielen Sie auch einen Tischler.

Wüst: Ursprünglich war es ein Taxi­fahrer.

DIE FURCHE: Warum haben Sie die Rolle selber übernommen?

Wüst: Daran ist eigentlich die Claudia Martini schuld. Als wir die Besetzung überlegt haben, hat sie gesagt: „Wüst, spüs söba.“ Ich habe ja auch das Schauspielerhandwerk gelernt. Als die Entscheidung gefallen war, war klar: Es muss ein Tischler sein, denn das kann ich. Das zweite war das Auto: Da habe ich ein paar Fahrstunden genommen, weil ich seit Jahren nicht mehr gefahren bin. Aber es hat nicht geklappt. Dann bin ich auf diesen „Alkoholiker-Manta“ gekommen, und da wusste ich, das geht sich aus. Denn wenn du am Land den Führerschein verlierst, dann darfst du nur das fah­ren. Auch damit kann man schön zeigen, dass jemand gestrandet ist. Das ist gleich auch ein Humorfaktor, denn das Gefährt ist ein Unikat aus der 1960ern. Claudia Martini hat sich in diesen Wagen gleich verliebt und gesagt: „Ich möchte fahren!“ Ich musste dann ihre Rolle umschreiben, sodass meistens sie fährt.

DIE FURCHE: In meiner Kindheit hat dieses Gefährt „Kabinenroller“ geheißen …

Wüst: In Bayern sagt man „Alkoholiker-Manta“, im Burgenland „Reblaus-Maserati“.

DIE FURCHE: Wenn Sie die Rolle so auf sich hin entwickelt haben: Wie weit sind Sie mit Ihrer Biografie in der Figur drinnen?

Wüst: Für mich ist die Montur, der Blaumann, ein Schutz, in der ich zeigen kann, was ich wirklich kann – nämlich ein Stück Holz bearbeiten. Da sitzt jeder Griff. Ich bin aber nicht in der Situation dieses Mannes.

DIE FURCHE: „Aufbruch“ ist charakterisiert durch die großen, ganz lang gefilmten Naturbilder, aber gleichzeitig auch die Industrielandschaft, wie sie etwa am Alberner Hafen in Wien zu finden ist. Aber diese Industrielandschaft ist gebrochen, die Eisenbahngleise sind von Gras überwachsen …

Wüst: Die beiden Menschen im Film sind eigentlich allein auf der Welt – zwei Gestrandete: Er ist aus einer Beziehung her­ausgetreten, wo es keine Lösung gibt, und sie aus der Beziehung mit ihrem Bruder. Die beiden treffen sich, weil sie gestrandet sind, sie haben niemanden. Um das zu verdeutlichen, zeige ich auch niemanden sonst. Erst nach dem Tod der Frau kommen Autos vorbei. Auch die Straßen im Film sind eigentlich Straßen, die nicht mehr verwendet werden, sie sind abseitige Wege. Diese Einsamkeit zu zeigen, war mir wichtig.

DIE FURCHE: In dieses Szenario passt das skurrile Gefährt hinein, etwas, mit dem man sich irgendwie fortbewegen kann.

Wüst: Auch das Boot im Hafen gehört dazu oder das Zu-Fuß-Gehen. Zu Beginn bleibe ich bei der Bank stehen, auf der die Frau liegt: Schläft sie? Ist sie bereits tot? Wir fah­ren dann in die Tischlerei, und ich zeige mit Handwerkszeug, wie das geht – und zwar seit Tausenden von Jahren. Das Handwerk ist heute vorbei. Aber ich erinnere daran. So geht es weiter, irgendwann geht das Gefährt ein, und sie müssen zu Fuß weiter. Und kommen in den Hafen, wo der Koffer der Frau zerstört wird und das Kreuz …

DIE FURCHE: … das Sie in der Tischlerei aus zwei Latten zusammengezimmert haben.

Wüst: Für mich ist es eigentlich kein Kreuz, ich baue es aus Holz zusammen, aber es hat nie die christliche Bedeutung. Denn hätte es diese, dann wäre der Punkt gekommen, wo Claudia dieses Kreuz aufstellt. Aber so weit kommen wir ja gar nicht.

DIE FURCHE: Aber für mich hat das Kreuz sehr wohl ein religiöses Moment. Es ist ja den Großteil des Films da, bis es am Schluss zertreten und verbrannt wird.

Wüst: Natürlich sind wir alle von 2000 Jahren Katholizismus geprägt. In der Werkstatt sage ich zu Claudia: Zu meinem Gesellenstück habe ich eine Truhe gebaut, aber die hat am Ende ausgeschaut wie ein Sarg. Dieser Mann ist also per se schon ein Todes­engel … Die filmische Schule, die mich geprägt hat, das ist ein Tarkowski oder ein Sokurow oder ein Peleschjan: Das sind alles Poeten. Und auch ich möchte Gesten übersetzen, Rituale. Deswegen hat es für mich nicht mit Religion zu tun. Wenn ich das Kreuz verbrenne und ihren Koffer zerstöre, dann wird etwas transformiert in Wärme, Energie. Das kann man philosophisch betrachten, zugleich ist es ein poetisches Bild.

DIE FURCHE: Aber Tarkowskis Filme sind doch voll von religiöser Symbolik!

Wüst: Er selber hat das nie gesagt. Ich habe viele Bücher über Tarkowski gelesen. Er hat
 nie gesagt, dass es religiöse Symbole sind.

DIE FURCHE: Aber man kann die Poesie auch aus der Kulturgeschichte heraus sehen, die schon religiöse Konnotation auslöst.

Wüst: Christoph Huber vom Filmmuseum hat über meine Filme geschrieben, sie seien spirituelle Reisen. Das ist für mich ein Kompliment und trifft mehr, als zu sagen, es sind christliche Geschichten. Wir erzählen bei „Aufbruch“ die Geschichte über die Bilder. Denn wir reden ja nur viermal. Der Film ist radikal minimalistisch.

DIE FURCHE: Der Film kommt mit sehr wenig Sprache aus – und spricht doch sehr viel.

Wüst: Genau.

KRITIK ZU „AUFBRUCH“
Die Poesie verwundeter Seelen
In einer Schlüsselszene von „Aufbruch“ finden sich der Mann (Ludwig Wüst) und die Frau (Claudia Martini) in einer aufgelassenen Tischlerei wieder. Die beiden Zufallsbekanntschaften stranden hier zeitweilig, und er erzählt ihr von seinem Gesellenstück für die Tischler-Prüfung. Es war eine Truhe, sagt er, die wie ein Sarg ausgesehen hat. „Aufbruch“, Ludwig Wüsts jüngster Film, ist weit mehr als ein Gesellenstück, „Meis­terwerk“ ist jedenfalls keine falsche Charakteristik für die praktisch sprachlose Reise zweier in ihrer Existenz getroffenen Seelen, die für einen – im Film immerhin 103 Minuten langen – Augenblick aufein­ander treffen. Jedenfalls ist Wüst hier ein Referenzfilm gelungen, der auch künftige Generationen von Filmfreunden beschäftigen wird. Minimalistisch zum Quadrat, eindringlich in den Bildern und in der Langsamkeit, ein betörendes Hineinziehen in eine nur scheinbar unspektakuläre Geschichte, die von zerborstenen Leben und noch mehr vom Tod handelt. Rein zufällig begegnet der in einem Kabinenroller durch die Lande tuckernde Mann der verhärmten Frau, die gerade mit ihrem Bruder, der ihr am meisten nahestehenden Person, gebrochen hat. Auch er ist beziehungsverwundet, aber im Aufeinandertreffen der beiden entwickelt sich eine grandios poetische Geschichte, die zwischen kleinem, auch absurdem Humor und den großen Fragen der Menschen changiert. Und zugleich ein Kreuz-Weg – obwohl Wüst (siehe das Interview oben) den nicht religiö­s interpretieren will. Vielleicht trifft es ja das Wort „numinos“ besser, das zwar „Religion“ im Wort vermeidet, aber doch auf deren existenziellen Gehalt verweist. (Otto Friedrich)