Schreie und Flüstern.
Ludwig Wüsts AUFBRUCH zu den letzten Dingen


Gary Vanisian

Es beginnt mit einem Schrei, einem lang anhaltenden, wütenden Schrei gegen das peitschende Rattern eines Hochgeschwindigkeitszuges. Er dringt aus den Tiefen einer unbändigen Brust und setzt den ersten kraftvollen tonalen Höhepunkt des neuen Films von Ludwig Wüst, Aufbruch, der in 102 Minuten eine „filmische Reise zu letzten Dingen“ (Ludwig Wüst) unternimmt; und letzte Dinge sind dabei gleich auch erste Dinge: die elementaren Gefühle des Lebens (Trauer, Hoffnung, Lieben, Verlieren), dargeboten in einer Bildsprache, die eine synästhetische Brücke zwischen stiller Abschiedssymphonie und lautschimmernder Haiku-Poesie schlägt.
 
Nachdem der Mann im blauen Overall, mit dem Rücken zum Zuschauer stehend, seinen Wirbelsturm aus Empfindungen gegen das dahinziehende Leben geschleudert hat, wendet sich nun auch sein äußerliches Leben der Veränderung zu. Gegen Ende des Films entschlüsselt sich, was ihn dazu bringt, aus seinem bisherigen Leben herauszutreten und mit einem kleinen, drolligen Wagen (einem schönen Augenzwinkern auf die sonst viel gewaltigeren Gerätschaften, in denen ein Road Movie vonstatten geht) die Fahrt ins Weite des Landes anzutreten. Und man lässt sich mit ihm treiben und wagt gar nicht nach dem Warum? zu fragen, weil uns die Suche an sich so fasziniert. Bald gesellt sich eine ältere Frau zu ihm – in ihrer ersten Szene, da noch allein und ebenfalls kurz nach einer Flucht, sieht man sie bei einer im Kino überhaupt seltenen Tätigkeit, nämlich dem Lesen und Übersetzen von russischen Gedichten – dergestalt offenbart sich allmählich, mit jeder neuen Szene, eine Facette der Figuren, wie bei (à propos) einer Matrjoschka. Die beiden Drangbewegungen verschmelzen für eine kurze Weile des Films zu einem gemeinsamen Impetus. Sie bilden ein unvergleichliches Gespann, das in seiner Verschiedenheit ein minimalistisches, doch üppiges Diorama der Menschlichkeit bietet.
 
Neben alledem ist es auch ein Film von außergewöhnlicher Körperlichkeit: man sieht Hände arbeiten (schreinern), Arme sich verausgaben (beim Ausmalen einer Wand), Schultern rudern, Lippen flüstern, raunen. Der Blick des großartigen Kameramannes Klemens Koscher findet die Nähe in der Distanz und umgekehrt und besticht durch ein überragendes Feingefühl für Licht und Stimmungen – mit den Figuren und den Wetterstimmung zusammen wandelt sich auch die Farbpalette des Films, von kälteren zu wärmeren, lichteren Tönen.

Für körperlich-haptische Bilder von einer solchen Wucht braucht es Darsteller, die voll und ganz mit ihren Figuren verschmelzen, ihre Figuren verkörpern. Oft, nicht immer, ergibt sich eine besonders dringlich-persönliche Note aus der Mitwirkung des Regisseurs in einer führenden Rolle in seinem Film: im deutschen Kino denkt man an den ausweglosen Peter Lorre in Der Verlorene, seiner Rückkehr in das deutsche Filmschaffen nach dem Krieg und zugleich einzige Regiearbeit, an Rainer Werner Fassbinder natürlich; in aktueller Zeit und international betrachtet sind Cristi Puiu (in Aurora) und vielleicht auch Mathieu Amalric (in Barbara) filmemachende Darsteller, die in ihrer Körperlichkeit, Statur und der brillant rhythmisierten Langsamkeit ihres Spiels an Ludwig Wüsts Darbietung in Aufbruch erinnern. Er schreit und schreinert nicht nur, sondern spricht auch – in einer zwischen dem Fränkischen und Wienerischen und ein bisschen Barockdeutsch sich bewegenden Kunstsprache, deren jeder Satz mit großer Mühe aus dem Inneren dieses mönchshaften Schweigers entströmt und dahingehaucht ist. Es ist Ludwig Wüsts zweites Langfilmdebüt – als Schauspieler, 15 Jahre nach seinem Debüt als Regisseur, obwohl es eigentlich hätte andersherum sein sollen, denn er hat Schauspiel und Gesang studiert, nicht Regie. 
Neben ihm erlebt man Claudia Martini, die schon zur festen Regie von Wüsts Schauspielern zählt. Wie eine der unvergesslichen fragilen Damen von Yasujiro Ozu wirkt sie bisweilen, versiegend und demütig scheinbar, aber berührend und dann doch aus sich ausbrechend und so vieler ungesagter und ungefühlter Dinge voll, dass ein einzelner Film sie nie auserzählen könnte.
 
Die Reise der beiden Figuren beschließt sich an einem gleichsam mythischen und doch ganz gegenwärtigen Ort, führt über Wasser und an einsamen Eisenbahnschienen entlang zu einem End- wie Wendepunkt. Zärtlich und grausam zugleich ist der Abschied voneinander, und nimmt sich alle Zeit der Welt, denn es gibt hier keine mehr zu zählen. In den letzten (und ersten) Dingen des Films gilt es sich zu verlieren, wiederzufinden und neu zu denken.