"3.30 pm": Ludwig Wüsts Voyeurblick durchs Knopfloch


Sonja Harter, OE24.at, 28.10.2020

LuFiktive Doku eines Treffens zweier Freunde - Versiffte Kindheitserinnerungen und emotionale Hochschaubahn ab 29. Oktober bei der Viennale (Von Sonja Harter/APA)


"3.30 pm". Exakt um diese Uhrzeit beginnt Martin bitterlich zu weinen. Gerade hat sein Freund Anthony die Zeit händisch auf einer alten Wanduhr eingestellt, die er an die versiffte Wand von Martins heruntergekommenem Elternhaus genagelt hat. Es ist der emotionale Höhepunkt des neuen Films von Ludwig Wüst. Fiktive Doku, hinterfotziger Livestream oder Kunstwerk - eine Kategorisierung muss der Viennale-Zuseher dabei ab Donnerstag selbst vornehmen.

Im Fokus des 74 Minuten langen Streifens des Regisseurs, dessen letzter Film "Aufbruch" 2018 auf der Berlinale seine Weltpremiere feierte, steht das Wiedersehen zweier Freunde nach 15 Jahren. Im Knopfloch des aus den USA angereisten Freundes (Andrew Brown) steckt eine Kamera, die Martin (Markus Schramm) nicht bemerkt. Sonst würde er wohl kaum so offen über seine gescheiterte Existenz plaudern, während er seinen Freund über die "Gstättn" am ehemaligen Nordbahnhof führt und gehässig von jener "Smart City" spricht, die hinter den S-Bahn-Gleisen entsteht. In schlechtem Englisch berichtet er von seinem geplatzten Werbedeal mit einer Möbelkette, seinem Schlafplatz in einem Männerwohnheim oder einem Nebenjob als Leiter eines Amateurstücks mit Flüchtlingen, das durch eine Messerattacke ein jähes Ende fand. Als die beiden in jener Unterführung ankommen, wo bis vor einer Woche noch eine obdachlose Frau gewohnt hat, kippt die Stimmung ein erstes Mal: Die Bauarbeiten am Nordbahnhof haben sie vertrieben, ihr einstiges "Wohnzimmer" wurde planiert. Für Martin ist es ein weiterer Baustein der Hoffnungslosigkeit im wackeligen Gerüst seines Lebens.

Zum Trost machen sich die beiden in den Prater auf, um bei Stelze und Bier weiterzuplaudern. Zuvor erfährt Martin noch, dass Anthony von einer drogensüchtigen Frau, die erst vor wenigen Wochen gestorben ist, ausgenommen wurde, sein Leben aber wieder (inklusive Ehefrau) in den Griff bekommen hat. Ein Schlag ins Gesicht für den erfolglosen Martin, der beim letzten Bier auch noch erfahren muss, dass Anthony ihr gesamtes Treffen via Knopfkamera in die USA übertragen hat, um einem unfallbedingt nicht mitgereisten Freund die Illusion zu geben, dabei zu sein. Martin reagiert verstört, kann sich schließlich aber mit der Situation anfreunden. Als sich die beiden am nächsten Tag zu einer Landpartie treffen, trägt Martin den Kameraknopf. Zuvor konnte man jedoch noch Anthony dabei beobachten, wie er im Morgengrauen die verschwunden geglaubte Obdachlose (gespenstisch: Roswitha Soukup) auftut und sich zu ihr legt...

Im elterlichen Abbruchhaus, dessen Garten die beiden mit vereinten Kräften auf Vordermann bringen, kommt es dann zum Showdown. Gewalt und Einsamkeit in der Kindheit, verpfuschtes Leben, schimmelige Wände. Doch als Martin im Schuppen ein Akkordeon findet und Anthony zu spielen beginnt, keimt Hoffnung auf. Der Zuschauer ist durch die wackelige, manchmal verzerrte Aufnahme der Knopfkamera als Spion dabei, fühlt sich in vielen Situationen aber wohl als voyeuristischer Eindringling. Das ist schließlich die Stärke dieses Streifens: Durch die sparsam eingesetzten Mittel und die ungekünstelten schauspielerischen Darstellungen muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass es sich hier um (teils improvisierte) Fiktion handelt. Sonst täte es an manchen Stellen zu weh.


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