Des woar's - aber der Film geht weiter


Janis El-Bira, Lukas Foerster; Perlentaucher, 31.01.2019

Das Berliner Kino Arsenal widmet dem österreichischen Regisseur Ludwig Wüst eine Werkschau. Wir stellen zwei seiner Filme vor: "Aufbruch" protokolliert die äußeren und inneren Folgen eines Beziehungsendes, "Heimatfilm" zeigt, was mit Fotoalben passiert, wenn die Bilder fehlen. Wo die Menschen und die Erinnerung an sie verblassen, da muss der Film einstehen.

Fürs Verlassenwerden oder auch fürs im-Zorn-jemanden-Verlassen hat das Kino im Laufe der Jahrzehnte eine Auswahl von wiedererkennbaren Bildern, fast schon ein audiovisuelles Skript entwickelt: Zuerst sitzt da jemand heulend auf dem Bett oder isst, frustriert und zerzaust, im Pyjama mit großen Löffeln Eis aus dicken Plastickbechern, dann folgen die ersten Schritte aus dem Haus inklusive sehnsüchtiger Blicke auf glückliche Liebespaare, die Aufmunterungsversuche von Freunden sind zunächst vergeblich, aber irgendwann schleicht sich wieder die Normalität ins Leben, vielleicht verbunden mit einer kurzen, heftigen Affäre. All diese Bilder haben etwas gemeinsam: Sie passen nur auf junge Menschen; nicht unbedingt nur auf sehr junge, aber doch auf in einem weiteren Sinne junge oder junggebliebene (auf Isabelle Huppert in Mia Hansen-Løves "L'avenir" passen sie jedenfalls noch). Und zwar, weil der Horizont des Verlassen(-werdens) immer schon eine andere, die nächste Beziehung ist.

Ganz andere Bilder findet "Aufbruch", der großartige neue Film von Ludwig Wüst. Die Differenz artikuliert sich bereits im Doppelsinn des Titels. Zum einen geht es zwar durchaus auch um einen äußerlichen Aufbruch, um eine ihrerseits doppelte Reisebewegung: Eine Frau im fortgeschrittenen Alter (Claudia Martini) und ein etwas jüngerer, aber ebenfalls bereits von den Jahren gezeichneter Mann (Ludwig Wüst selbst) finden sich durch einen Zufall, fahren zusammen durch Österreich und suchen eine Reihe von Orten auf, die ihnen in ihrer aktuellen Situation wichtig zu sein scheinen. Kurz vor Filmbeginn haben sich beide von ihren jeweiligen Partnern getrennt, in den Film ragen diese Beziehungen nur noch in Form zweier Telefongespräche ganz am Anfang herein und in Gestalt eines Schattens, der sich über zwei Leben gelegt hat.

Soweit mag "Aufbruch" noch als eine minimalistische, enigmatische Variation auf die oben erwähnten, geläufigen Kinobilder von Beziehungsenden gelten. Aber Wüst bleibt dabei nicht stehen. Sein Film protokolliert nicht nur einen äußeren, sondern auch einen inneren Aufbruch: etwas ist in den Figuren aufgebrochen, und nun lässt es sich nicht mehr zunähen. Anders als der äußere ist der innere Aufbruch irreversibel, es gibt keine Möglichkeit zur Rückkehr. Wüsts Bilder verweisen nicht auf einen Zyklus, der sich wieder in Gang setzt, sondern auf Singularitäten. Die Bewegung der beiden hat etwas Finalisierendes, erst recht gilt das für eine Reihe von Handlungen, die sie im Verlauf ihrer Reise vollziehen. Der Mann zimmert in einer Tischlerwerkstatt ein Holzkreuz, die Frau klatscht in einem leerstehenden Haus mit bloßen Händen weiße Farbe auf eine Rauhfasertapete.

Auch wenn durchaus Tränen im Spiel sind, ist der innere Aufbruch nicht dasselbe wie ein Gefühlsausbruch. Wüsts lange, meist starre Einstellungen rücken den Figuren und ihren Affekten nicht auf die Pelle. Eher lässt der Film nachvollziehen, dass etwas kollabiert ist, eine Selbstfiktion vielleicht, und dass noch nicht abzusehen ist, was aus den Trümmern entstehen wird. Das schönste Bild für diesen inneren Aufbruch findet Wüst in dem leerstehenden Haus: Die Frau steht vor einer Wand, tastet schluchzend die Tapete ab und ist plötzlich, für ein paar Momente, nur noch ein fast konturloser Schatten, der nicht mehr trennscharf von der Textur um sie herum zu unterscheiden ist.

Über die Gründe des Aufbruchs, des inneren wie des äußeren, erfahren wir wenig. Über ihre Gründe fast gar nichts, über seine zwar deutlich mehr, aber so spät im Film, dass es nicht mehr möglich ist, das Bild, das wir uns vorher von ihm gemacht haben, auf diese Gründe abzubilden. Überhaupt verortet Wüst seine Figuren nicht in lebensweltlichen Zusammenhängen (oder: er zerreißt den Zusammenhang von Leben und Welt). Die Welt, durch die die beiden sich bewegen, ist zwar offensichtlich ihre Welt. Orte, die sie wiedererkennen, Straßen, die sie schon einmal entlanggelaufen sind (gedreht wurde im Burgenland, in Niederösterreich und in Wien). Aber die Orte haben sich verändert, sie sind ebenfalls zu inneren Orten geworden. Nicht ganz, das Außen ist nicht komplett verschwunden. Auf der Tonspur oder auch durch Verkehrsbewegungen im Bildhintergrund setzt sich das Alltagsleben fort. Aber an keinem der Orte, den sie besuchen, begegnen sie auch nur einem einzigen anderen Menschen. Das gelbe Dreiradauto, in dem die beiden lange Zeit unterwegs sind - bis auch es den Geist aufgibt - hat etwas von einem Raumschiff.

Es bleibt die Frage, warum sie nicht jeweils allein, sondern zu zweit unterwegs sind. Nicht nur reden sie nicht viel miteinander, auch ansonsten machen weder er noch sie Anstalten, ihre jeweilige Begleitung allzu tief ins eigene Gefühlsleben hineinzuziehen. Aber vielleicht ist gerade das der Punkt. Sie brauchen eine Begleitung als einen Anker in der Welt, damit sie nicht im eigenen Selbst versinken. (Lukas Foerster)

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Im hintersten Stübchen jenes Erinnerungsgebäudes, das Ludwig Wüsts "Heimatfilm" errichtet, findet sich ein leeres Fotoalbum. Die kurzen Texte, die man früher als orientierende Marginalien in diese Alben zu schreiben pflegte, sind noch da, doch die Bilder selbst sind fort. Herausgenommen, vielleicht verschenkt, vielleicht verloren. Die Handschrift am Rand ist nur mehr Teil eines Schattenspiels ohne Ausgangspunkt. "Ein schöner Spaziergang ins Grüne", steht da noch, oder "Modenschau auf dem Balkon" und auch: "Auf jeden Abschied folgt ein Wiedersehen" - eine Weisheit, so fadenscheinig und dünn wie die Striche, die der Buntstift auf dem grobporigen Papier hinterlassen hat.

Immer wieder umspielt Wüst - der große Solitär des österreichischen Kinos, dem das Berliner Arsenal-Kino an diesem Wochenende eine Werkschau widmet - in "Heimatfilm" dieses Wort-Bild-Verhältnis. Es gibt Bilder ohne Worte zu sehen und Worte zu hören, die gar keine oder nur unpassend scheinende Entsprechungen im Bild finden. Dann wiederum wird das Bild ganz Wort, wenn eine Hand - meist gehört sie dem Filmemacher - mit dem Kugelschreiber auf leeren Blättern kritzelt. "Ich kann lesen", wird da zu Beginn krakelig notiert. Aber das gesprochene Wort aus dem Off des Films versetzt der geschriebenen Behauptung im Bild sogleich einen Dämpfer. Denn hier üben eine Männer- und eine Frauenstimme augen- und ohrenscheinlich noch, wie aus der windschief kopierten Schrift zunächst Laute, dann Worte und schließlich ein Satz werden.

Arbeit am Sinn, könnte man das nennen, und damit vielleicht überhaupt den außergewöhnlichen Wegen näherkommen, die dieser Film einschlägt. Dass er mit "Heimat" einen maximal sinnbeladenen und gleichzeitig sinnentleerten Begriff im Titel trägt, führt dabei direkt ins Abseits der Erwartungshaltungen, die er nicht nur mit dieser Überschrift unweigerlich auslöst. Denn die Heimat liegt nicht in den vergilbten oder gleich ganz leeren Fotoalben, die hier ein ums andere Mal durchblättert werden. Und auch nicht im kürzlich verwaisten Elternhaus, in dem die Hinterlassenschaften seiner einstigen Bewohner schon den ersten Staub ansetzen. Wenn Wüst es in einer langen Szene durchstreift, findet seine Handkamera nur totes Zeug. Kaputte Elektrogeräte, wieder viele Fotos, Heiligenbildchen und Kleidung, die keinen Träger mehr hat. Wüst klopft an einer Tür, aber niemand kann mehr öffnen. "Des woar's", sagt Wüst, während er sich selbst im Spiegel filmt. Ein Grab ist zu sehen, das Kreuz trägt einen anderen Familiennamen.

Des woar's - aber der Film geht weiter. Wo die Menschen und die Erinnerung an sie verblassen, da muss der Film einstehen. Aber Film ist bei Wüst ein unzuverlässiges Speichermedium. Er lässt sich nicht "machen", sondern schreibt sich vielmehr selbst - der Regisseur ist nicht viel mehr als ein Archivar, der dem angespülten Material eine grobe Ordnung verleiht, es zwar markiert und kommentiert, aber auch dort, wo er offenkundig selbst filmt, nie ganz alleiniger Urheber zu sein scheint. Doch die Arbeit des Archivars heißt immer auch Welterfassung und Sinnerschließung. So kommen in diesem Film noch die disparatesten Enden zueinander: Die Super-8-Filme aus der Kindheit mit dem Digital-Heute, die Pornodarstellerin auf YouTube mit dem Tischler im offenen Vollzug, der Regisseur in seinem Elternhaus mit dem Selfie-Video eines kanadischen Musikers, der nach Jahren wieder Kontakt mit seiner Mutter sucht. Das alles mag authentisch oder inszeniert sein, alt oder neu. In seiner seltsamen Eigengesetzlichkeit löst es dann doch das Versprechen des Titels ein. Zumindest, wenn man zwei Worte aus ihm macht. (Janis El-Bira)

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