Serpentinen der seele
Jonas Lages, Der Tagesspiegel, 22.02.2018
Vor der Kulisse des Burgenlandes: Ludwig Wüsts Roadmovie „Aufbruch“ im Forum ist ein Film des Abschiedsnehmens.
Eine Frau ruft ihren Bruder an und verabschiedet sich für immer. „Deine Demütigungen habe ich nicht verdient“, sagt sie und schmeißt das Handy von sich. Sie sitzt mit gepacktem Koffer an einer Landstraße. Das Novemberlicht ist so trübe wie ihre Gedanken. Ein Mann in blauem Overall kommt vorbei; auch er hat gerade mit den Seinen gebrochen. Er nimmt sie in seinem gelben Moped-Auto mit und die beiden bilden einen Film lang eine momenthafte Gemeinschaft der Leidenden.
Ludwig Wüsts „Aufbruch“ lebt von der Reduktion: ein Tag, zwei Figuren, drei Orte. Es ist ein Roadmovie der Innerlichkeit. Die westerngleich fotografierten Serpentinen des Burgenlandes entsprechen der Seelenregung seiner Hauptfigur. Es geht in eine alte Tischlerei, deren Inhaber der Frau (Claudia Martini) ein Holzkreuz hätte zimmern sollen; ihr neuer Gefährte führt es aus. Es folgt ihr baufälliges Elternhaus und endet in einem Verladehafen.
In langen, präzisen Einstellungen können sich die namen- und sprachlosen Figuren behutsam entfalten. So verlagert Wüst die Geschichte gänzlich ins Bild. Geradezu archaisch wirken die Rollenbilder. Der Mann (Ludwig Wüst selbst) ist wortkarger Beschützer und Problemlöser, ein Mann der Tat, der sich nicht mit Worten, sondern mit Händen ausdrückt. Gleichwohl ist er nur stummer Begleiter auf der Reise der Frau; sie gibt den Weg vor.
Plötzlich brechen Wunden auf
Aufbruch: Das ist der Wunsch nach einem Neuanfang, der sich plötzlich Bahn bricht. Doch genauso plötzlich brechen Wunden auf. Vielleicht ist das eine nicht ohne das andere zu haben. Vielleicht kann man nur mit seiner Vergangenheit brechen, wenn man sie aufbricht, rauslässt und loslässt. Beide Figuren erleben solche Eruptionen der Gefühle, in der der Schmerz den Körper aus den Angeln hebt.
„Aufbruch“ ist ein Film des Abschiednehmens, Testament letzter Dinge. Die Landschaft und die Gegenstände sind gleichsam Zeugen der Zeit wie Zeichen des Verfalls. Doch trotz der Düsternis verfällt dieser nüchterne Film nie in Pessimismus. Im Schweigen vereint, geben sich die Figuren Halt. In einem Gedicht, das sich die Frau vorliest, fasst der Film seine Essenz: Es gibt nur eins auf Erden, heißt es dort. Das, was ein Herz dem anderen sagt, in einem wortlosen Gruß.
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