Besuch in der Film- und Theaterwerkstatt von Ludwig Wüst


Bert Rebhandl, Der Standard, 07.03.2019

Der Regisseur und Tischler galt als Geheimtipp. Nun ist der Eigenbrötler, der dem Handgemachten huldigt, im Kino und im Theater mehrfach präsent.

Ein Mann und eine Frau, ein Stück gemeinsamer Weg, ein offenes Ende: Das ist im Wesentlichen die Geschichte von Aufbruch, dem neuen Film von Ludwig Wüst. Recht viel einfacher kann eine Erzählung nicht gehalten sein, Erklärungen braucht es nicht, worauf es ankommt, kann man sich denken. Claudia Martini spielt die Frau, den Mann spielt Wüst selber. Er spielt dabei in einer besonderen Hinsicht auch sich selber: einen Tischler, der ein Kreuz macht, das dann mitkommt, wodurch aus Aufbruch auch ein Kreuzweg wird, allerdings in einem anderen Sinn als in dem geläufigen christlichen.

Seit 1987 lebt Ludwig Wüst in Wien, er kam damals aus seiner bayerischen Heimat nach Österreich. In all den Jahren hat er sich zuerst mit Theaterarbeiten, später mit (Untergrund-)Filmen eine Anhängerschaft erarbeitet. Mit Aufbruch, der im Vorjahr auf der Berlinale Premiere hatte, ist ihm nun ein Schritt zu einem größeren Publikum gelungen. Da trifft es sich gut, dass die Diagonale mit einem Tribute einige der früheren Filme von Wüst erschließt – und ihn zugleich auch noch mit seinen anderen Metiers präsentiert: mit einer Theaterinszenierung von Fräulein Julie nach Strindberg am Schauspielhaus Graz und mit einer Holz-Lecture.

Wie Orson Welles

Das Holzkreuz in Aufbruch kann man also auch als einen Hinweis auf das Kunstverständnis von Ludwig Wüst sehen. "Bei den Vorbereitungen habe ich lange überlegt, welche Figur ich spielen könnte. Claudia Martini hat gemeint: 'Wüst, du spüst selber die Hauptrolle.' So, wie Orson Welles in Der Prozess den Advokaten besetzen wollte und keine Gage zahlen konnte, woraufhin Romy Schneider sagte: 'Orson, you do it.' Also habe ich mich entschieden, einen Tischler zu spielen. Das kann ich, ich habe das gelernt, ich wollte ganz pur von diesem Handwerk erzählen, das es in dieser Form seit Jahrtausenden gibt." 

Zwei Motive kommen da zusammen: das Ethos des Handwerks, von dem alle Filme von Wüst geprägt sind, und seine finanziellen Umstände. Er hat lange außerhalb der Förderungen gearbeitet, unter Umständen, die deutlich nicht filmindustriell sind. Low und No Budget erfordern einfache Mittel und Wege. Im Zeichen des Kreuzes kommt das gut zum Ausdruck.

"Es sind halt zwei Bretter. Dass es ein Kreuz ist, kommt von der Figur der Frau, die Claudia Martini spielt. Für mich ist das eine Kreuzüberplattung: verbunden, geleimt und geölt. Natürlich sind viele Deutungen möglich, aber letztlich ist es ein Holzstück. Ich erzähle über die Manufaktur." Wüst habe das vor 30 Jahren noch gelernt: sämtliche Holzverbindungen mit der Hand, ohne Maschine. Heute heißt der Beruf Holztechniker: "Diese sinnliche Erfahrung, die man mit Holz haben kann, wird gar nicht mehr gelernt. Ich zeige also, wie es war und heute nicht mehr gewünscht ist. Ich stelle Wissen zur Verfügung."

Organische Verbindungen

Die organische Verbindung zwischen den Tätigkeiten leitet Wüst schon aus seiner Kindheit her. Sie ist ihm zugewachsen. "Ich bin in Bayern auf dem Dorf auf einem Bauernhof aufgewachsen. Als Kind bin ich immer in den Wald gegangen und habe Bäume gezeichnet. Das Bild und die Malerei waren mir sehr nahe, und ich habe auch überlegt, ob ich Malerei studieren soll, aber letztlich war es eine logische Sache: Ich werde Tischler, weil ich mit den Bäumen vertraut bin. Heute mache ich das nicht mehr hauptberuflich." Mit ein paar Kollegen betreibt er jedoch ein Atelier und macht Möbel aus Massivholz. "Da kommt meine Handschrift sehr zum Tragen, wie sie auch im Film und im Theater zum Tragen kommen. Ich sehe mich in allen drei Disziplinen zu Hause: Materie, Bewegung, Vision."

Das Theater war zuletzt ein wenig in den Hintergrund getreten. Umso größer ist die Begeisterung von Wüst, nun eine langgehegte Idee zu realisieren: "Fräulein Julie begleitet mich seit 30 Jahren. Ich dachte mir: Was wäre, wenn wir daraus ein Vampirstück machen? Julie ist seit ihrem Selbstmord eine Untote, die einmal im Jahr in der Mittsommernacht aufgesucht wird. Der Graf ist auch längst tot. Einmal im Jahr gehen alle hinauf auf den Dachboden, um die Untote zu besuchen. Und an dem Tag, an dem das Stück spielt, beginnt mit diesem Ritual etwas, das dazu führt, dass die Julie sich nach 50 Jahren von ihrer Geschichte zu befreien beginnt. Eigentlich ist sie eine Figur des 19. Jahrhunderts, wir versuchen, dass diese Julie im Jahr 2019 ankommt."

Tribute mit Lücke

Das Tribute zum filmischen Werk bei der Diagonale ist notwendigerweise schmal: drei eigene Arbeiten (dabei fehlt bedauerlicherweise der herausragende heimatfilm, eine autobiografische Collage) und ein Programm mit vier Hinweisen auf ein Kino, in dem sich Wüst zu Hause fühlt: der Amerikaner Robert Frank, die Französin Marguerite Duras, der Armenier Artavazd Pelechian und ein nahezu unbekannter Name – Audrius Stonys. "Diese vier Filme sind nur ein winziger Teil von Juwelen des Welterbes Kino. Stonys habe ich vor ein paar Jahren zufällig entdeckt. Wir sind gleich alt. Er lebt in Vilnius, ich erkenne bei ihm kein Interesse, sehr bekannt zu werden. Er macht seit 30 Jahren poetische Dokumentarfilme. Earth of the Blind zeigt ohne Sprache eine alte blinde Frau, die mit Tieren in einem Holzhaus lebt. Stonys zeigt einfach ihren Tag. Mit Sprache ist diesen Filmen nicht wirklich beizukommen."

Der Filmstart von Aufbruch und das Tribute bei der Diagonale dürften wohl dazu beitragen, dass Wüst nicht länger als Untergrundfilmer zu betrachten ist. Auf eine andere Weise wird er es aber wohl immer bleiben. So hört es sich jedenfalls an, wenn man ihn nach seinen nächsten Projekten fragt: "Es ist so: Es gibt ein Großprojekt, über das ich nicht sprechen möchte. Dieses Jahr möchte ich in einer Art Laborfunktion ein anderes Projekt angehen, das zu einem Dekalog-Projekt führt. Kein vorgegebener Text, ich spreche nur mit den Schauspielern, und wir drehen mit minimalstem Aufwand, um dann darauf aufzubauen, bis es die richtige Form hat. Ein Dogma-21-Projekt. Ich werde wahrscheinlich mit dem fünften Gebot beginnen."

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